Mariott Stollsteiners Objekte aus Glas, Spiegeln, Großdias, Drucken, Blütenblättern, Stahl und Schrift sind zu Ende gemacht, bevor sie in eine Ausstellung gebracht werden. Sie sind fertig im Sinne einer gelungenen Positionierung der verschiedenen materiellen Gestaltungselemente mit- und zueinander. Danach jedoch kommt die Situation der Werke im öffentlichen Kontext als akzidentielles Gestaltungselement von entscheidender Bedeutung hinzu. Die Betrachtbarkeit, manchmal auch Begehbarkeit, ist ihre eigentliche Basis. Erst im geistigen und im physischen Dialog mit dem Menschen gelangen die Werke zur Vollendung.

Üblicherweise werden Arbeiten wie „goddesses‘ meeting-point” als Installationen bezeichnet. “Installieren” im Sinne eines Hineinstellens von spezifischen Objekten in einen spezifischen Raum fasst im Wortsinne diesen Raum als Rahmen, topographischer wie auch semantischer Art, auf. Der Raum ist das mehr oder weniger neutrale Bezugssystem, in dem das Geflecht der „Installation” gewoben wird. Mariott Stollsteiner geht in ihrer Arbeit „goddesses‘ meeting-point”, die in fünf Variationen fünf verschiedene Göttinnen mit jeweils einer leeren Körpersilhouette aus dem griechischen Pergamon-Altar zeigt, anders vor. Jede Variante bildet mit dem Spiegel, der Glasscheibe mit Großdia und der Glasscheibe mit gravierter Schrift eine Basiseinheit im Raum für den Raum. In »between I« sind zwei dieser Basiseinheiten „Rücken an Rücken”, also Spiegelrückseite an Spiegelrückseite, aufgehängt, in »between II« hängen zwei im rechten Winkel zueinander im Raum. „Goddesses‘ meeting-point” ist keine Installation im klassischen Sinn, sondern eine offene Komposition von Bild- und Gestaltungselementen im Raum, die mehr ergibt, als die Summe der einzelnen Teile. Vielleicht sollte man von einer „Versuchsanordnung” sprechen.

Der Ausstellungsraum ist für diese Arbeit weniger als Raum mit spezifischen Maßen und Proportionen, als vielmehr im Sinne eines Bewegungsraums, genauer gesagt eines Raums für Bewegungsmöglichkeiten, vorhanden. Wie im Titel der Ausstellung bereits klar formuliert, geht es in „goddesses‘ meeting-point”, wie auch in Stollsteiners anderen Arbeiten, um die Zwischenräume. „Dazwischen” heißt „zwischen den Glasscheiben”, meint aber auch den Betrachter zwischen sich und seinem Spiegelbild, das ihm von den Glasscheiben zurückgeschickt wird, nicht ohne mit den Bildern in den Objekten in eine unlösbare Verbindung gebracht zu werden. „Dazwischen” heißt auch „zwischen den Menschen im Raum”, die durch die Werke im Raum – egal ob im mündlichen Austausch über das Wahrgenommene oder im stillen Betrachten und sich Bewegen untereinander und zwischen den Arbeiten – bewusst oder unbewusst in eine Beziehung miteinander eintreten.

In „goddesses‘ meeting-point” sind die Körper der Giganten aus den von Stollsteiner verwendeten Fotoausschnitten des Pergamon-Altars gelöscht. Auf der davor gehängten Glasscheibe hat Stollsteiner Schriftfelder eingraviert, die den Körpersilhouetten der Giganten entsprechen. Von vorne betrachtet überlagern die Schriftfelder die Leerstellen im Bild. Zwischen Schrift und Bild ist gerade soviel Raum, dass ein Mensch in seitlichem Schritt hindurchgehen kann. Aufgrund des geringen Abstands bleibt er frontal vor der Frontalansicht in der Fotografie, wird zum Bild vor dem Bild und zum Bild im Ensemble der Arbeit.

So tritt der Betrachter einerseits direkt ein in die klassische Ikonographie der Arbeit. Die Geschichte des Kampfes der Giganten gegen die Götterwelt, die im Pergamon-Altar dargestellt ist, handelt von irdischer Hybris, die von den Göttinnen und Göttern vernichtend bestraft wird, und es ist letztendlich die Frage nach dem Wesen des Irdischen, die Stollsteiner thematisiert, indem sie die körperliche Erscheinung der Giganten löscht und auf einer ihnen vorgelagerten Schicht über die Gestalten das (göttliche) Wort setzt. Der Betrachter tritt zwischen irdischen und göttlichen Entwurf und wird als Individuum manifest.

Andererseits begibt sich der Betrachter vor der Arbeit in eine visuelle Interaktion. Durch die hintereinander angeordneten Scheiben und den Spiegel entstehen vielfache Rückkoppelungen, die den Betrachter optisch in die Arbeit hineinholen. Sein Spiegelbild trägt die Spuren des Werks, ist scheinbar mit Schrift überzogen, und taucht plötzlich vor den dunkleren oder den ganz transparenten Partien des Fotos im Spiegel wieder klar und deutlich auf.

In „goddesses‘ meeting-point”, dem „Treffpunkt der Göttinnen”, sind Betrachterin und Betrachter zu Gast. Reflektion, im besten Falle Selbsterkenntnis, ist es, was die Menschen vor und in diesem Werk erhalten. Sie erkennen sich selbst als Außenstehende auf den Oberflächen von Spiegel und Schrift und sie tauchen mit Auge und Geist in Bild und Text ein. Bewegung und Betrachtung, Körper und Auge sind im Wahrnehmungsprozess getrennt: Wo der Betrachter sich selbst in der Arbeit als aktives Individuum wahrnimmt, erscheint die Arbeit eher als ein stiller Reflektor. Wo der Betrachter verweilt, um mit dem Auge den durch die Seitenverkehrung abstrahierten Schriftzügen zu folgen und die durch die axialsymmetrische Verdoppelung gesteigerte Dynamik der Bewegungen der Figuren im Foto zu erfahren, gerät das Werk in Bewegung.

Die Giganten verkörpern in der antiken Mythologie das Irdische, das schmerzhaft an seine Grenzen stößt. Stollsteiner hat die Giganten aus den Fotos entfernt und so eine Spiegelfläche entstehen lassen, in der sich der Mensch in der Position des Giganten im aussichtslosen Kampf mit der Göttin sieht. Er erkennt sich selbst, spürt seine Grenzen, aber genauso auch seine Handlungsmöglichkeiten. Die Texte auf der vordersten Scheibe weisen einen Weg. Stollsteiner hat für alle fünf Varianten von „goddesses‘ meeting-point” die gleichen zwei Texte gewählt, eine Zeile aus einem Gedicht von Octavio Paz: „By passion the world is bound, by passion too it is released.” und eine Passage aus dem Johannes-Evangelium: „Ihr müßt aus den Höhen neu geboren werden. Der Wind weht, wo er will. Du hörst zwar sein Rauschen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So auch ist jede, die aus dem Atem des Geistes geboren ist.” Die beiden Energiepole Leidenschaft und Geist, (Geist, den jede Seele benötigt, wie Stollsteiner in Abänderung des Originals formuliert), schließen in Schriftform die freie Leerstelle des Irdischen. Die Texte sind Kommentar des mythologischen Geschehens und können zugleich als Wegweiser verstanden werden.

Stollsteiner hat die Texte in Zeilen, die den Körpersilhouetten der Giganten folgen und sich gegenseitig durchdringen und überlagern, in stetigem Fluss immer wieder hintereinander geschrieben wie ein Mantra, bis die Form gefüllt war. Dieser Schriftschleier tritt, auf der Rückseite der vorderen Scheibe befindlich, dem Betrachter seitenverkehrt und, durch die konsequente Überlagerung der Zeilen, praktisch nicht mehr zu entziffern entgegen. Man muss die Quelle kennen, um Bruchstücke entziffern zu können… oder auch nicht. Die Art der Wahrnehmung, die Stollsteiner sich vom Betrachter ihrer Arbeiten wünscht, geht über die analytische Ebene hinaus. Die Freiheit im Handeln setzt die Freiheit des Geistes voraus.

Text: Thomas Huber